Gott ist tot – Nietzsche auch. Was nun?

1882 proklamierte der deutsche Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche bekanntermassen: “Gott ist tot!” Es war der letzte Nagel zum Sarg des Christentums und seiner Glaubwürdigkeit in akademischen Kreisen. Gleichzeitig brachte es die Entwicklungen in der Philosophie der letzten 500 Jahre auf den Punkt. Nietzsches Aussage schwappte jedoch weit über den Tellerrand der Philosophie hinaus und wurde bis in die Popkultur weltberühmt. Damit wurde sein Zitat aber gewissermassen auch zum Klischee. Es wird oft als triumphale Proklamation verstanden und wirkt auf den ersten Blick auch als solche. War das wirklich alles, was Nietzsche damit sagen wollte?

Die Geschichte vom tollen Menschen

Wie nicht weniger zu erwarten von einem der tiefgründigsten Philosophen der letzten 500 Jahre, war seine Aussage einiges komplexer als es auf den ersten Blick scheint. Die Aussage befindet sich in Nietzsches Werk Die fröhliche Wissenschaft, und darin in einer Kurzgeschichte von einem “tollen Menschen”, der in ein Dorf läuft und nach Gott fragt. Betrachtet man den Kontext, so ändert sich der Eindruck vom scheinbar simplistischen Zitat. Was oftmals als normativer Siegesspruch interpretiert wird, ist in Wahrheit ein deskriptiver Klageschrei:

“Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! […] Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, […] mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen?”

Mit “Gott” bezieht sich Nietzsche nicht ausschliesslich auf den judeo-christlichen Gott YHWH, sondern auch auf die Wert- und Weltanschauung, die damit verbunden ist. Nietzsche, der sich selbst als Antichrist und Anti-Antisemit bezeichnete, macht in anderen seiner Werke klar, dass derjenige, der das Christentum ablehnt, auch keinerlei Anspruch mehr auf dessen Werte und Ethik hat.

Nietzsche behauptet also nicht lediglich, dass Gott tot ist, sondern dass das gesamte religiöse Konstrukt und Denkmuster gefallen sind. Somit folgt, dass die christliche Moralität, die christlichen Werte, die christlichen Institutionen etc. ebenfalls tot sind. Ausserdem sagt er nicht, dass Gott sterben soll oder tot sein soll, sondern dass er es ist – deswegen ist das Zitat deskriptiv.

Nietzsche erklärt er in seiner Kurzgeschichte weiter:

“‘Wohin ist Gott?’, rief [der tolle Mensch], ‘ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! […] Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? […] Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten?’”

Nietzsches Voraussage

Unsere Gesellschaft, die Nietzsche vor mehr als 150 Jahren vorausgesagt hat, basiert auf dem judeo-christlichen Glauben – ob wir das gutheissen oder nicht. Angefangen von unserem Kalender über unsere Kindergeschichten bis hin zu unseren kognitiven Denkmustern sind wir geprägt vom Christentum und seiner Kultur. Als dieses und seine Grundlagen gefallen sind, befinden wir uns moralisch im freien Fall. “Oben und Unten”, symbolisch für Moralität, sind entweder nicht mehr vorhanden oder schwer auszumachen, denn die christliche Ethik ist tot – nicht mehr akzeptiert – und eine neue gibt es noch nicht.

Wichtig anzumerken und gewissermassen atypisch für einen Philosophen ist, dass bis hierhin keinerlei normative Elemente vorhanden sind. Nietzsche beschreibt nicht, wie die Welt oder die Moralität sein sollen, sondern lediglich, wie sie sind. Dies ist das heimtückische Element des Zitats: Was auf den ersten Blick als starkes “Statement” interpretiert werden kann, ist im Grunde nichts weiter als eine Bestandsaufnahme – und sie trifft den Nagel auf den Kopf.

Eine vorausschauende Diagnose

Bis etwa 1500, in der philosophischen Epoche der Prämoderne, war die westliche Welt und Gesellschaft tief christlich. Anschliessend, in der Epoche der Moderne von etwa 1500 bis 1900, begann sich dies zu ändern. Zuerst die Reformation und später die Aufklärung veränderten die Philosophie und damit die prädominante Weltanschauung in der Gesellschaft stark. Ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit Nietzsches, hatte man in der Philosophie endgültig mit der Religion abgeschlossen, weswegen sein Zitat so symbolisch für diese Zeit wurde. Die Aufklärer, die Wissenschaft, Rationalität und Skepsis priesen, wandten sich von der scheinbar abergläubischen, prä-wissenschaftlichen Religion ab, um die “richtige” Wahrheit zu verfolgen. Sie wollten Ethik und Moralität an tatsächlich wahren, messbaren, wissenschaftlichen Prinzipien festmachen – die sogenannte naturalistische Ethik.

Betreffend die normative Ethik von Nietzsche muss man anderswo nachschauen, denn in diesem Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft sagt Nietzsche nicht, was seine Lösung für das Problem von Gottes Tod ist. Ein Schlüsselkonzept, berühmterweise in Nazideutschland missbraucht, war jedoch seine Theorie vom Willen zur Macht und dem Übermenschen. Der Mensch muss sich, mangels traditioneller religiöser Werte und Ethik, sein Wertesystem selbst konstruieren. Daraus folgt der Übermensch, welcher nach seinen eigenen, formidablen Prinzipien handeln soll.

150 Jahre nach Nietzsches Tod sind wir zwar nicht viel weiser als Nietzsche, aber zumindest etwas “erfahrener”. Nietzsche hat mit erstaunlicher Präzision vorausgesagt, dass wir als direkte Konsequenz des Verlustes des Christentums und seiner Werte im 20. Jahrhundert zwischen totalitären Extremen hin und her schwanken würden. Im Speziellen hat er auf die ausserordentliche moralische Abscheulichkeit des Kommunismus hingewiesen. Beides Vorhersagen, die sich leider mit ausserordentlicher Genauigkeit bewahrheitet haben.

Die Postmoderne

Was Nietzsche nicht wissen und voraussagen konnte, sind die Fortschritte in der Philosophie und Wissenschaft, die seit seiner Zeit stattgefunden haben. Auf die Epoche der Moderne folgte die Postmoderne – die Zeit des 20. Jahrhunderts bis heute. Die Postmoderne zeigt, dass wir in eine philosophische Sackgasse geraten sind: Die Postmodernisten behaupten, dass Rationalität und Wissenschaft lediglich Machtspiele sind.

Die Ethik der Religion ist also inakzeptabel, und diejenige, die aus der Wissenschaft kommt, ebenfalls. Was bleibt uns nun? In der Moderne standen wir philosophisch vor einer Weggabelung. Einige Philosophen und Theologen haben das Christentum reformiert und auf seiner Grundlage Wissenschaft betrieben. Andere wiederum sahen keinen Wert in der Religion und zunehmend – in einer Entwicklung bis heute – auch keine Grundlage für die Wissenschaft.

In diesem Sinne müsste man vielleicht weniger den Satz hervorheben, den Nietzsche berühmt gemacht hat und der hier untersucht wurde, sondern den Satz, der wenige Zeilen zuvor steht: “Wohin ist Gott?”

Gott – Wertesysteme – sind zwar spezifische Systeme, die “sterben” können, aber grundsätzlich keine Konzepte, die verschwinden. Auch ein Atheist hat sein Wertesystem und seine Weltanschauung. Sein Gott ist nicht inexistent, nur unbewusst. Sein Gott ist nicht tot, nur verschwunden. Wir müssten uns heute vielleicht mehr an Nietzsche erinnern und uns fragen: Wo ist Gott?

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