Liebe Verschwörungstheoretiker,

es ist noch viel schlimmer, als ihr denkt.

Linus Hilfiker
3. September 2025

Bild: ChatGPT

Im Juni 2022 veröffentlichte Karoline Thürkauf vom SRF einen Artikel über eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Laut dieser “glaubten 2018 noch 36 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer an Verschwörungstheorien.”

Falls Sie Tendenzen zum Verschwörungstheoretiker haben, werden Sie behaupten, die Forscher könnten nicht definieren, was als Verschwörungstheorie einzustufen ist und was nicht. Aber abgesehen davon: 2021 sei der “Anteil um 8 Prozentpunkte gesunken” und wäre “noch bei 28 Prozent” gewesen. Thürkauf und die Forscher, die sie befragt hat, kommen zum Schluss, dass Corona für viele “eher abschreckend gewirkt” hat.

Verschwörungs-Paranoia

Unsere Gesellschaft und die Medien haben skandalisiert, wen sie als Verschwörungstheoretiker identifiziert haben. Obwohl das zweifellos “abschreckend gewirkt” hat, wird es den Verbleibenden mit Hang zu Verschwörungstheorien in den resultierenden Echokammern nicht gut getan haben.

Auch sonst sollte unsere Gesellschaft die Verschwörungstheoretiker besser verstehen. Kein Wunder, denken sie so: Unsere gesellschaftlichen Traumata erklären wir standardmässig als Verschwörungen.

Der Strich zwischen Gut & Böse

Im Grunde ist unsere Analyse der totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts: Die Bösen – eine Minderheit mit falschen Ideen – haben die Macht an sich gerissen und die Guten mit Gewalt unterdrückt.

Ohne Hitler kein Nazideutschland, kein Zweiter Weltkrieg. Dass ihn die Schuld dafür trifft, bestreitet niemand Vernünftiges. Aber Böse, Extremisten und Fanatiker gab es immer und wird es immer geben. Um zu verstehen, wie ein Nazideutschland entstehen konnte, reicht es nicht, auf Hitler zu zeigen. Man muss bei sich selbst beginnen.

Aleksandr Solschenizyn – russischer Soldat, deutscher Kriegsgefangener, sowjetischer Gulaghäftling – hat in seinem Archipel Gulag erfolgreich versucht zu verstehen, wie die Katastrophe des Sowjetkommunismus möglich war. Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam er zu folgendem Fazit:

“Wenn es nur so einfach wäre! – dass irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten.

Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?”

Ähnlich beschrieb es auch Viktor Frankl, Auschwitz-Überlebender:

“Das Menschliche [ist] eine Legierung von Gut und Böse. Der Riss, der durch alles Menschsein hindurchgeht und zwischen Gut und Böse scheidet, reicht bis in die tiefsten Tiefen.”

Es sind die zwei wohl bestbekanntesten Analysten des totalitären Horrors – sie haben ihn am eigenen Fleisch erlebt. Und beide kamen zum Schluss: Hitler, Stalin, Mao und dergleichen waren nicht eine andere Sorte Mensch. Wir sind Menschen, wie die Nazis auch Menschen waren und wir sind im Prinzip zum gleichen fähig.

Die Wahrheit ist: Aller Wahrscheinlichkeit nach wären Sie und ich im Dritten Reich mit der Masse mitgegangen. Wenn wir Geschichtsbücher aufschlagen, sollten wir sie zuerst aus der Perspektive der Täter lesen – denn sehr wahrscheinlich wären wir selbst auf deren Seite gestanden.

Nur mit dem tief verinnerlichten Wissen und Verständnis des eigenen Potentials für das Böse kann man versuchen derjenige zu sein, der damals nicht die Hand zum Gruss gehoben hätte.

Die meisten Menschen sind nicht gut – sie sind nur zu feige, um böse zu sein.
— frei nach Friedrich Nietzsche

Wie oft haben Sie im Alltag, ohne Gewaltandrohungen oder patrouillierende Nazis, bereits ihre Prinzipien über den Haufen geworfen und sind der Herde gefolgt?

Was lässt uns denken, dass wir damals in Nazideutschland die heroischen Helden gewesen wären, wenn wir heute, ohne etwas Namhaftes befürchten zu müssen, uns lieber nicht gegen dem Strom aussprechen, obwohl wir etwas zu sagen hätten?

Wir wollen “Gott” spielen

Unsere Gesellschaft macht noch einen weiteren Fehler in der Analyse – wir spielen “Gott” mit der Wahrheit. Um auf die Standardanalyse zurückzukommen: Die Bösen – eine Minderheit mit falschen Ideen – haben die Macht an sich gerissen und die Guten mit Gewalt unterdrückt.

Wer definiert, welche Ideen und Meinungen richtig und welche falsch sind? Während Corona haben die Medien und die Regierung entschieden, die orthodoxe Haltung sei pro-Impfung. Ist das richtig, weil es eine Mehrheit dachte?

Nach Mehrheiten können wir nicht gehen. Die Nazis hatten zwar in Deutschland keine absolute Mehrheit, sie haben aber der Mehrheit diktiert, was sie zu denken hatte – zu Beginn ohne Gewaltandrohung für den Einzelnen. Es ist das Paradebeispiel, wie eine Mehrheit in eine falsche Richtung laufen kann. Das wissen wir im Nachhinein.

Wir brauchen freien, gesellschaftlichen Diskurs aller Themen, ohne Zensur. Um überhaupt herauszufinden, was richtig ist, müssen wir zuerst jedem erlauben, alle mögliche Positionen zu vertreten und anzuhören. Wir können nicht a priori definieren, was richtig und was falsch – was Wahrheit und was Verschwörungstheorie ist.

Wir sind nicht pessimistisch genug

Indem wir die grossen Übel der Geschichte als Verschwörungen deuten – absolut Böse gegen absolut Gute – laden wir zum verschwörerischen Denken ein. Wir sind zu wenig pessimistisch. Absolut Gut gegen absolut Böse; absolut falsch gegen absolut richtig, kämpfen in unseren eigenen Herzen. Wir müssen keine Angst haben vor dem Bösen bei den Dummen, den Falschen oder den Anderen. Wir müssen Angst und schliesslich Respekt haben vor dem Bösen in uns selbst. 

Liebe Verschwörungstheoretiker,

die Welt wäre eine einfachere, wenn es tatsächlich funktionierende Verschwörungen gäbe. Die Realität ist schlimmer: Es braucht keine Verschwörung. Es braucht nur eine Masse völlig normaler, harmloser Menschen, die dem Bösen Stück für Stück etwas Platz bieten.

Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.
— Albert Einstein,

Es braucht keine Verschwörungstheorien, um zu erklären, was ihr befürchtet. Ihr unterschätzt die Rolle und Wichtigkeit eines jeden, völlig normalen Bürgers, der nur etwas zu feige ist.

Ihr überschätzt die Macht der Wenigen, der Bösen. Es gibt sie, ja, es wird sie immer geben, aber sie alleine vermögen nicht, die Welt in düstere Bahnen zu lenken – sie sind auf die Masse angewiesen. Nicht die Extremen sind das Problem, sondern die Vielen, die “Fähnchen im Wind”:

Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.
— Offenbarung, 3:15-16

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