Polarisierung: die philosophische Sackgasse des Jahrhunderts

Die Wiederwahl von Donald Trump hat für viele Amerikaner und für die Schweiz zunächst wenig Konkretes verändert. Doch an ihm scheiden sich die Geister entlang philosophischen Grundsatz-Linien – er polarisiert die Gesellschaft.

Linus Hilfiker 22. August 2025

Seit seiner Wiederwahl im November 2024 gilt Donald Trump erneut als der mächtigste Mann der Welt, doch seine Macht zeigt sich bisher nicht primär in militärischen, diplomatischen oder wirtschaftlichen Einflüssen. Vielmehr hat er die Fähigkeit, die ganze Welt zu polarisieren. Er dominiert Gespräche, löst starke Emotionen aus – von Begeisterung bis Entsetzen – und zwingt alle, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Für viele Amerikaner hat sich bisher, konkret wenig verändert – für den Rest der Welt und die Schweiz noch weniger. Dennoch prägt Trump unsere Debatten und Spaltungen wie kaum ein anderer.

Projektionsfläche Trump

Trump ist offensichtlich eine Projektionsfläche – er geniesst das bewusst. Es gibt wenige Gründe, warum wir in der Schweiz tief emotional beispielsweise auf die Energiepolitik des amerikanischen Präsidenten reagieren sollten. Aus Trump lässt sich aber ein exzellentes Beispiel machen, um seine eigene politische Weltanschaung gegen aussen zu tragen.

Kognitive Verzerrungen (“Biases”) lassen uns die Welt so interpretieren, dass sie unseren Überzeugungen entspricht. Jeder kennt die Versuchung, Fakten so zurechtzubiegen, bis sie ins eigene Weltbild passen. Die Offensichtlichkeit dieses Phänomens kann einen schnell zynisch machen. Ist es überhaupt möglich, eine Situation nüchtern und rational zu betrachten? Gibt es so etwas wie “Fakten” überhaupt, und wer besitzt sie? Gelangen wir je an eine Wahrheit, oder versuchen wir uns nur ewig von gegenseitigen Machtinteressen zu überzeugen?

Die Neuropsychologie der Wahrnehmung

Die Antworten auf diese Fragen sind komplexer, als es scheint. Erkenntnisse aus Psychologie, Robotik und sogar postmoderner Literaturkritik zeigen, dass unsere Wahrnehmung der Realität zwangsläufig subjektiv ist, geprägt von Emotionen, Zielen und funktionalem Kontext. In der Robotik wird deutlich: Um die Welt zu navigieren, muss ein Roboter sie zunächst wahrnehmen, doch ein simples “Objekt” wie ein Rechteck erscheint je nach Licht oder Perspektive unterschiedlich. Erst durch ein Ziel – etwa eine Bewegung – kann der Roboter es als “Rechteck” einordnen. Genauso verhält es sich mit uns: Ein Baumstumpf und ein Ledersessel teilen kaum physische Gemeinsamkeiten, und dennoch gehören beide zur Kategorie “Stuhl”, weil sie die gleiche Funktion erfüllen – darauf sitzen zu können.

James J. Gibson (✝ 1979) war einer der bedeutendsten Neuropsychologen des letzten Jahrhunderts. In seinem Buch An Ecological Approach to Visual Perception beschreibt er seinen Term “Affordance” und die Idee dahinter:

“Perhaps the composition and layout of [objects] constitute what they afford. If so, to perceive them is to perceive what they afford. This is a radical hypothesis, for it implies that the ‘values’ and ‘meanings’ of things in the environment can be directly perceived.” (Gibson, 1979, S. 127)

Was Gibson hier beschreibt, ist in seinen eigenen Worten eine “radikale Hypothese”: Anstatt, dass wir Objekte wahrnehmen, sehen wir Bedeutung, Wert und Funktionalität. Anschliessend, aber nur sekundär, können wir daraus ein Objekt ableiten. Was wir sehen, wenn wir einen Stuhl betrachten, ist: Sitzmöglichkeit – nicht hellbraunes, hölzernes Objekt von 113 cm Höhe und 42 cm Breite mit vier vertikalen Stützen usw…

Darüber können sich nur Intellektuelle streiten

Die Philosophie der Aufklärung ging davon aus, dass wir die Welt objektiv erkennen und rationale Schlüsse ziehen können. Diese Annahme begründete die moderne Wissenschaft. Im 20. Jahrhundert wiesen jedoch verschiedenste Disziplinen auf einen Fehler in diesem Denken hin. Wie Gibson in der Neuropsychologie erkannte auch die postmoderne Literaturkritik und Philosophie, dass selbst die Interpretation eines Textes oft Ansichtssache bleibt.

Neben der Robotik erkannten auch Tiefenpsychologen wie Freud, Adler und Jung, dass unsere Wahrnehmung von unbewussten Emotionen und Motivationen geprägt ist.

Die Erkenntnis, dass der Mensch nicht primär objektiv und rational ist, war ein Schock für die Wissenschaft – und das wohl Offensichtlichste für jeden Nicht-Akademiker. Philosophisch warf sie dennoch die Frage auf: Wenn meine Sicht auf die Welt durch meine inneren Antriebe gefärbt ist und deine durch deine, wie können wir dann eine (gemeinsame) Wahrheit finden?

Verschiedene, folgenschwere Antworten

Die postmoderne Philosophie bietet eine Antwort, die unsere Zeit nachhaltig prägt. Sie entwickelte sogenannte “Critical Theories”, wie etwa die “Critical Race Theory”, und inspirierte kulturelle Bewegungen wie “Woke” oder “Black Lives Matter”. Ihre Grundannahme lautet: Wir sind unserer Subjektivität und unseren Machtmotivationen ausgeliefert, ohne Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Polarisierung wird so zur Oberflächenerscheinung eines tieferliegenden Kampfes um Macht, nicht um Gerechtigkeit. Michel Foucault, einer der einflussreichsten postmodernen Denker, beschreibt dies treffend:

“Das Proletariat führt nicht Krieg gegen die herrschende Klasse, weil es diesen Krieg für gerecht hielte. Das Proletariat führt Krieg gegen die herrschende Klasse, weil es zum ersten Mal in der Geschichte die Macht ergreifen will.”

Eine Alternative zu dieser Sichtweise, die weniger pessimistisch ist, bietet die Tiefenpsychologie. Sie schlägt vor, die inneren “Triebe” – die von Postmodernisten als Machtmotivationen bezeichnet werden – zu integrieren und auf ein höheres Ziel auszurichten. Wenn wir eine objektive Wahrheit als oberstes Gut anerkennen, können Emotionen und Motivationen diesem Ziel dienen. So wird eine objektive Wahrnehmung der Realität möglich, ähnlich wie in der Wissenschaft. Dies setzt jedoch voraus, dass wir unsere Machtmotivationen – von C. G. Jung als den “Schatten” der Psyche beschrieben – bewusst zurückstellen.

Polarisierung als Konsequenz

Die gegensätzlichen Antworten auf eine der bedeutendsten Erkenntnisse des letzten Jahrhunderts verdeutlichen ein gesellschaftliches Dilemma, das im “Phänomen Trump” besonders deutlich wird. Nimmt man, wie die Postmodernisten, Marxisten und Woken an, dass wir unseren subjektiven Machtmotivationen nicht entkommen können, wird Trump zum Symbol für Ideologien – unabhängig davon, ob seine politischen Handlungen uns tatsächlich betreffen.

Geht man davon aus, dass Machttriebe und Eigenmotivationen überwunden werden können, müssen wir unsere ideologischen Brillen ablegen. Das erfordert die Bereitschaft, eigene Fehler einzugestehen, die Wahrheit zu suchen und offen für Dialog zu sein. Indem wir unsere eigenen Vorurteile hinterfragen und die Perspektiven anderer einbeziehen, können wir blinde Flecken erkennen und zu einer gemeinsamen Wahrheit finden. Nur so können wir die Spaltung überwinden, die Figuren wie Trump verstärken, und eine Kultur des offenen Austauschs schaffen.

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    Meinung: Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin

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